Moderne Zeiten
Radolfzell, 28.07.2011 von Michael Häßler
Diese Riggs machen schon bei geringen Windstärken einen enormen Druck und lassen sich bei mehr Wind quasi stufenlos „abregeln“.
Die Masten dieser Boote sind oft aus Kohlefasern und durch die gepfeilten Salings praktisch starr. Großsegeltrimm über eine variable Mastbiegung ist damit nicht möglich, bei einem solchen Segel aber auch nicht notwendig. Das setzt aber voraus, dass das Segelmaterial nur minimal reckt und das Profil auch bei hohem Winddruck stabil bleibt.
Diese Segeltechnik und diese Riggs wären ohne modernes, reckarmes Segelmaterial gar nicht möglich. Sie sind eine Folge der neuen Materialien, bei denen keine Dehnung mehr durch Mastbiegung oder entsprechende Gestaltung der Vorliekskurve „herausgezogen“ werden muss.
Trimm über Baumhöhe
Der grundlegende Unterschied dieser Großsegel, und teilweise auch der Focks, gegenüber „dreieckigen“ Segeln ist, dass das Achterliek mehr oder weniger deutlich hinter der direkten Linie zwischen Kopf und Schothorn verläuft. Der obere Teil des Segels wird dabei von durchgehenden Latten gestützt. Es ist leicht vorstellbar, dass sich die nach hinten ausgestellte Segelpartie nach Luv rollt, sobald der Baum nach unten gezogen wird. Das Segel wölbt sich dann wie ein Flugzeugflügel mit ausgefahrenen Landeklappen, während es sehr flach wird, sobald der Baum etwas steigen kann. Dadurch kann das Profil exakt und wirkungsvoll allein durch den Schotzug variiert werden. Für den Anstellwinkel ist der Traveller zuständig, ohne den ein solches Riggkonzept nicht funktionieren kann.
Bei einer mittschiffs angeschlagenen Großschot könnte das Großsegel nicht ausreichend dicht genommen werden. Ein extrem tiefes und geschlossenes Profil wäre die Folge. Ein solches Segel würde einen Großteil der Vortriebskräfte aus der Fock wieder vernichten und immense Leekräfte entwickeln. Dazu käme ein hoher Wasserwiderstand durch das stark angestellte Ruderblatt, um die Luvgierigkeit auszugleichen.
Der Traveller steht bei einem solchen Rigg also immer mehr oder weniger in Luv, und zwar so, dass sich der Baum etwa in Mittschiffsposition befindet. Das Achterliek ist so weit geöffnet, dass die Leeströmung maximal nach hinten geführt, aber nicht wieder nach Luv abgelenkt wird. Das würde negativen Vortrieb erzeugen.
Dazu müssen die Achterlieksfäden im Segel beobachtet werden. Für maximalen Druck sollten alle Fäden außer dem Obersten mehr oder weniger gestreckt nach hinten zeigen. Das Segel ist dann optimal eingestellt, wenn dieser oberste Faden gerade eben in Lee hinter dem Segel verschwindet und von Zeit zu Zeit mal erscheint. Die Enden der unteren Latten sollten parallel zum Großbaum stehen und nicht nach Luv zeigen. Das sieht man sehr gut, wenn man von unten Baum und latten peilt. Feine Unterschiede zwischen verschiedenen Booten und verschiedenen Segeln bilden die berühmte Ausnahme von der Regel und sind das „individuelle Spielfeld“ für den Segler, der Freude am „Feintuning“ hat.
Muss das Boot bei mehr Wind „abgepowert“ werden, ist das mit einem solchen Segel meistens ohne zu reffen machbar. Es wird einfach im oberen, von den Latten gestützten Bereich „in den Wind gestellt“.
Dazu lässt man den Baum etwas steigen. Gleichzeitig holt man ihn mit dem Traveller wieder mittschiffs. Das Segel ist im oberen Bereich „entspannt“ und flach. Es verhält sich dann, als wäre es gar nicht vorhanden. Im unteren Bereich, dort wo der Hebelarm des Riggs kurz ist, behält es aber seine volle Leistung, so dass das?Boot sehr exakt an die jeweilige Windgeschwindigkeit angepasst werden kann. Böen können mit der Großschot nur durch steigen lassen des Baums, pariert werden.
Wer auf einen Traveller verzichten muss oder verzichten möchte, kann sich mit einer Hahnepot oder einem Bügel behelfen, der bis fast auf Baumhöhe reicht, wie man das oft auf Regattajollen sieht. Diese Einrichtungen lenken den Schotzug immer maximal nach Luv. Die einstellbare limitierende Komponente bildet dann der Baumniederholer. Je dichter dieser geholt wird, um so stärker wird das Achterliek geschlossen und umso höher wird der Unterdruck im oberen Bereich des Riggs.
Twist in der Fock
Die Verwindung des Großsegels stößt dort an seine Grenzen, wo das Segel durch die Leeströmung der Fock einfällt und zu killen beginnt. Dem kann man begegnen, indem die Fock ebenfalls mehr „getwistet“ wird. Das erreicht man durch eine Verschiebung des Holepunkts nach hinten oder durch mehr Mastfall. Das Segel öffnet sich im oberen Bereich und lenkt die Leeströmung weniger ab. Dem Großsegel bleibt also etwas mehr „Luft“ bis zum Gegenbauch.
Twist in der Fock hat noch einen weiteren Vorteil: Bei Starkwind und entsprechender Welle ist es dem Steuermann oft nicht möglich, so exakt zu steuern, dass das Vorsegel sauber angeströmt wird. Gerade der flache Anschnitt eines Regattasegels für einen geübten Steuermann kann extrem sensibel sein. Es arbeitet dann nur in einem sehr engen Bereich, was den Anströmwinkel anbelangt. Wird, aus Unachtsamkeit oder wegen der Welle, dieser kleine Bereich nicht exakt eingehalten, fällt die Leistung des Segels rapide ab.
Durch Twist variiert der optimale Anstellwinkel auf der vertikalen Achse. Fällt man etwas ab, arbeitet das Segel weiter oben besser, luvt man an, zieht es unten besser. Man verzichtet damit von vornherein auf die maximal mögliche Auftriebsleistung, die unter solchen Wetterbedingungen ohnehin nicht zu erzielen ist. Dafür bekommt man eine konstantere Durchschnittsleistung. Je weiter hinten der Holepunkt sitzt, um so größer wird der Bereich, in dem das Segel funktioniert und um so kleiner wird die mögliche Leistung. Vorsegel mit runderem Anschnitt haben von vornherein bessere Allround-Eigenschaften, aber geringere Spitzenleistungen als Segel mit flachem Anschnitt.
Durch diese Trimmtechnik kann das Rigg, zumindest an der Kreuz, sehr exakt den Wetterverhältnissen angepasst werden, ohne dass die Fläche reduziert werden muss. Problematisch wird die Sache allenfalls platt vor dem Wind. Dieser Kurs ist aber bei Starkwind generell nicht zu empfehlen. Besser ist es, etwas „angespitzt“ zu segeln und auf halber Strecke zu halsen oder notfalls eine Q-Wende zu machen.
Raume Kurse
Riggs mit wenig überlappenden Vorsegeln können an der Kreuz hohe Leistungen erzeugen, sind auf raumeren Kursen aber einer Genua mit langem Fußliek unterlegen. Wird eine Fock nur etwas gefiehrt, öffnet sie im oberen Bereich sofort. Dies kann bis zu einer gewissen Grenze durch eine entsprechende Schotführung, mit Barberholer oder quer verstellbarer Holepunktschiene, ausgeglichen werden.
Nähert sich das Boot einem Halbwindkurs, können leistungsorienterte Crews mit einer speziellen, „Code zero“ genannten Gennakervariante „noch ordentlich einen drauf satteln“. Solche Segel werden speziell für raume Am-Wind-Kurse konstruiert und können unter diesen Bedingungen einen enormen Druck entwickeln. Wird deren enger „Designbereich“ aber verlassen, fällt die Leistung rapide zurück.
Windrichtungen raumer als Halbwind sind die Domäne der asymmetrischen Spinnaker, Gennaker oder Blister. Hier gibt es wiederum Schnitte mit hoher Leistung und eng begrenztem Anströmwinkel oder weniger kritische Schnitte mit besserer Durchschnittsleistung über einen größeren Windeinfallswinkel.
Je achterlicher der Wind weht, umso vorteilhafter werden symmetrische Spinnaker. Gerade bei schweren Verdrängerbooten, die in ihrer Rumpfgeschwindigkeit gefangen sind, lohnt sich die Anschaffung eines Gennakers aus Leistungsgründen selten, weil das Boot vorwinds eine längere Strecke zurücklegen muss. Die einfachere Handhabung dieses Segels ist aber gerade für kleinere Crews ohne Regattaambitionen ein wichtiger Aspekt.
Bergesysteme
Routinierte Crews bergen ihren Spinnaker oder Gennaker im Windschatten von Vor- und Großsegel oder ziehen das Raumwindsegel auf der Luvseite in Vorluk oder Niedergang.
Der Zubehörhandel bietet mehr oder weniger gut gemachte Bergeschläuche an, die durchaus einen Sicherheitsgewinn für weniger geübte Segler darstellen können. Allerdings sind die zusätzlichen Leinen vor dem Mast und der Trichter über dem Segel zumindest mal Geschmacksache.
Eine weitere Variante sind Rollvorrichtungen. Entweder sind im Vorlieksaum des Gennakers zwei Leinen eingenäht um die das auf einem Fockroller montierte Segel aufgerollt wird oder es wird um ein separates „Wickelkabel“ gerollt. Hier bietet der Zubehörhandel mehrere Varianten an. Bei all diesen technischen Einrichtungen wird der Gennaker relativ einfach als „Wurst“ gesetzt und geborgen.