Das Tuch, aus dem die Träume sind
Radolfzell, 20.10.2013 von Anette Bengelsdorf
Schlägt man im Großen Brockhaus aus dem Jahr 1956 das Stichwort Segel auf, so findet sich dort folgender Eintrag:
„Segeltuch, ein festes Gewebe aus Leinen, Hanf oder Baumwolle, sodann Segeltuchflächen (Besegelung) zur Fortbewegung von Segelfahrzeugen.“
Dem Segler von heute bliebe die Qual der Wahl auf der Suche nach seiner neuen „Segeltuchfläche zur Fortbewegung“ weitgehend erspart, wäre diese Definition noch heute so bestechend einfach.
Die ersten Segel die auf den Weltmeeren unterwegs waren muten extrem abenteuerlich und experimentell an. Sie dürften vor über 5000 Jahren zunächst aus Tierhäuten bestanden haben. Chinesen und Polynesier waren noch lange mit Gras-, Bast- und Palmblattmatten unterwegs. Die Wikinger dagegen rüsteten ihre Langschiffe mit Wollgeweben aus, wobei das natürliche Wollfett einer besonderen Schafsrasse die Segel vor Feuchtigkeit schützten.
Schon in grauer Vorzeit auf Profiltreue bedacht, wurden die Rahsegel auf der Leeseite mit netzartigen Strukturen aus Seilen, in Luv mit Lederstreifen und aufgenähten Tuchverstärkungen bestückt.
Eine zur Imprägnierung der Gewebe aufgebrachte Mischung aus Ocker, Fett und Teer dürfte das Setzen und Bergen der Segel vermutlich zu einem Erlebnis der Extraklasse gemacht haben.
1851 gab der Schoner America den Startschuss zum Siegeszug der Baumwolle, die das später über Jahrhunderte übliche, robuste aber sehr schwere und dehnfreudige Leinen ablöste. Mit dem Sieg des 100 Guinea-Pokals, der später, ihr zu Ehren, zum America’s Cup wurde, setzte sie neue Maßstäbe.
Als erste Rennyacht war sie mit einem Baumwollgewebe ausgerüstet und konnte mit wesentlich flacher getrimmten Segeln und geringerem Topgewicht höher an den Wind als die Konkurrenz. Ein klarer taktischer Vorteil, den auch die Kriegsmarine für sich zu nutzen wusste.
Die begehrteste und teuerste Qualität war die Ägyptische Mako-Baumwolle. Durch ihre extrem lange und feine Faser konnte sie zu einem wahrhaftigen Hightech-Tuch verarbeitet werden, das für die damaligen Verhältnisse sensationell geringe Dehnung hatte. Durch den Schlamm, den der Nil bei seiner alljährlichen Überschwemmung auf den Feldern ablud, erhielt die Faser die typische Gelbfärbung, was sie von der weißen, weniger festen und damit billigeren Baumwolle aus Amerika unterschied. Eine sehr kurzfasrige rotbraune Sorte wurde wegen ihrer Haltbarkeit dagegen nur von englischen Nordseefischern gefahren.
Naturfasern haben nach Jahrtausenden ausgedehnt
Als in den Fünfzigerjahren die ersten Polyestergewebe auf den Markt kamen und 1957 den America`s Cup gewannen, fegten diese die Baumwollsegel vom Markt. Ihr Vorteil war eindeutig. Polyester nimmt kein Wasser auf und ist dadurch äußerst witterungsbeständig und zudem im Vergleich zur Baumwolle extrem reckarm.
Baumwolle dehnt wenn sie nass wird und schrumpft beim Trocknen. Vor der Verarbeitung musste sie daher gewässert werden. Eine Herausforderung für die Segelmacher. Zudem ist sie sehr spakanfällig. Sie durfte nur gänzlich trocken verstaut werden.
Da sich Baumwolle jedoch selbst mit einem Feuchtigkeitsgehalt von 20 Prozent noch trocken anfühlt, war dies nicht immer gewährleistet. Sie stockte und verrottete. Nach einer Sonnenbestrahlung von zirka 500 Stunden verlor das Baumwollsegel zudem bereits 25 Prozent seiner Festigkeit. Von Dehnungswerten bei 2,5 Zentimetern auf 1 Meter Tuchlänge ganz zu schweigen.
Das Zeitalter der Kunstfasern
Der Begriff Dacron, ursprünglich der Markenname für Polyesterfasern der Firma Du Pont, steht heute für gewebtes Polyestersegeltuch, wie Tempo für Papiertaschentücher. 1952 wurden die ersten Dacrontuche auf einem alten Kopfkissenwebstuhl von Ted Hood und seinem Vater wie Bettwäsche gewoben - oberflächlich betrachtet. Die fertigen Bahnen hatten damals eine Breite von 18 inch, (457 mm). Heute beträgt die Breite das Doppelte.
Weben
Der Schussfaden, also der horizontal durchgeschossene Faden, umschlingt jeweils einen vertikalen, gespannten Kettfaden. Diese Konstruktion heißt Leinwandbindung, hat die meisten Kreuzungen, also Bindungspunkte pro Quadratzentimeter, und damit die höchste Festigkeit in Schuss-, Kett-, und Diagonalrichtung. Der Unterschied zum Bettwäscheweben besteht heute darin, den Schussfaden so eng wie möglich an das bereits gewebte Tuch zu pressen. Dies gelingt nur auf kräftigen Spezialwebstühlen, auf denen der Schussfaden mit dem Webkamm so hart auf die anderen geschlagen wird, dass ein gewöhnlicher Webstuhl vermutlich auseinanderbrechen würde.
Grob eingeteilt, werden Tuche mit drei verschiedenen Eigenschaften hergestellt: Kettorientierte Tuche, bei denen die Kettfäden dicker sind als die Schussfäden und welche sich daher um die Kettfäden kräuseln. Diese Tuche haben die höchste Festigkeit in vertikaler Richtung.
Schussorientierte Tuche, bei denen der Schussfaden dicker ist als der Kettfaden, welcher sich dann zwangsläufig um den Schussfaden kräuselt. Hier ist das Tuch in horizontaler Richtung fester.
Balancierte Tuche, bei denen Kette und Schuss gleich dick sind und damit die Kräuselung gleichmäßig ist. Diese Tuche haben die höchste Diagonalfestigkeit.
Die Kräuselung der Garne, auch Crimp genannt, ist für die Dehnungseigenschaften eines Gewebes mitentscheidend. Bei Zug in Richtung der Kräuselung, wird diese zunächst herausgezogen, bevor das Garn dehnt.
Ausrüsten
Nach dem Weben, ist das Tuch noch lange nicht als Dacron erkennbar. Mit Wasser und Spülmittel werden zunächst alle Gleitmittel entfernt, welche die Garne beim Weben glatt und geschmeidig gehalten haben. Danach wird es durch ein Harzbad gezogen, um die Zwischenräume zwischen Kett- und Schussfäden auszufüllen und die Bindungspunkte zu verfestigen.
Für Fahrtentuche kommt hier in erster Linie Melaminharz zum Einsatz, ein Kunststoff, aus dem auch Resopalplatten für die Küche gefertigt werden. Für Racingtuche wird stattdessen oder sogar zusätzlich Polyurethan aufgestrichen, was die Tuche sehr hart macht.
Jetzt wird das Tuch getrocknet und durch einen Ofen geführt, der bei zweihundert Grad das Tuch erhitzt und das Polyestergarn um fünfundzwanzig Prozent schrumpfen lässt. Was bereits knalleng gewebt wurde, wird jetzt noch dichter.
Als wäre das noch nicht genug, durchläuft das Tuch beheizte Walzen, die es mit einem Druck von 614 N/mm?; (das entspricht 6140 bar!) zusammenpressen. Die Bindungspunkte werden dabei zusammengequetscht und das bereits beim Schrumpfen verdichtete Harz in die jetzt mikroskopisch kleinen Zwischenräume gepresst. Bei der Herstellung von sogenannten Square- oder Ripstop -Tuchen wird zusätzlich ein dickerer Polyesterfaden gitterartig eingewebt, um dem Ganzen noch mehr Festigkeit zu verleihen.
Verarbeiten
Die meisten gewebten Tuche sind aufgrund ihrer Dehnungseigenschaften nur für den horizontalen Schnitt geeignet. Bei einem High Aspekt-Segel, einem Groß oder einer Genua III mit einem großen Streckungsverhältnis, wenn also das Seitenverhältnis zwischen Vorliek und Unterliek 3:1 oder größer ist, verläuft die größte Last entlang des Achterlieks. Hier kommt ein schussorientiertes Tuch zum Einsatz, das im rechten Winkel zum Achterliek verarbeitet, mit seinen verstärkten Schussfäden die Last aufnimmt.
Bei Segeln mit kleinem Streckungsverhältnis, Low Aspekt genannt, bei denen das Verhältnis kleiner als 3:1 ist, verlaufen die Lastlinien in Bögen entlang aller Lieken. Tuche für eine Genua I oder ein Gaffelgroß müssen daher eher Diagonalkräfte aufnehmen und müssen daher balanciert sein.
Soll ein gewebtes Tuch radial verarbeitet werden, muss es kettorientiert und sehr hart geharzt sein. Für kleine One-Design-Klassen gibt es hierfür speziell entwickelte Tuche.
Dacron ist bis heute bei Fahrtenseglern das gängigste und beliebteste Tuch für Groß- und Vorsegel. Seine Robustheit, Knick- und Scheuerunempfindlichkeit und hohe Resistenz gegen die schädlichen Einflüsse der zunehmenden UV-Strahlung macht es zu einer unkomplizierten Ausrüstung wo immer es nicht auf Höchstleistung ankommt.
Verbesserung durch Hightech-Fasern
Aus Polyethylen, woraus zum Beispiel Plastiktüten gefertigt werden, wird eine hochfeste Faser gewonnen, die so gut wie keine Elastizität besitzt. Wird Dyneema, ein Markenname des niederländischen Chemiekonzerns Royal DSM, jedoch permanentem, zu starkem Zug ausgesetzt, fließt es. Dieses Phänomen kann man am ehesten mit dem Plastiktüteneffekt erklären, bei dem der Henkel einer überladenen Tragetasche immer länger wird, bevor er endgültig reißt. Diese Eigenschaft machen Dyneema für Racing-Tuche uninteressant.
Die weiße Faser mit seifiger Oberfläche ist jedoch völlig knickunempfindlich, hat eine gute UV-Stabilität. und wird zum Beispiel als Verstärkungsfaden in hochfeste Fahrtentuche wie Hydranet eingewebt. Für große, radial geschnittene Fahrtensegel kommt das kettorientiert gewebte Hydranet radial zum Einsatz.
Gewebe für Vorwindsegel
Die ebenfalls von Du Pont hergestellte Polyamid - Faser wurde in New York und London entwickelt und ist seit den Dreißigerjahren unter dem daraus zusammengesetzten Namen Nylon bekannt. Nylon ist wesentlich dehnbarer als alle anderen Fasern. Um eine hohe Festigkeit zu erzielen, werden viele feinste Fasern zu Garnen versponnen. Die hohe Elastizität bei gleichzeitiger Festigkeit lässt Nylon, im Gegensatz zu Polyester, einfallende Böen elastisch abfedern.
Selbst Überdehnung kann sich zeitlich versetzt wieder zurückbilden. Sein geringes Gewicht verhindert zudem, dass das Segel bei schwachen Winden schlapp herunterhängt. Durch die Ausrüstung mit unterschiedlichen Harzen wird unter anderem die unerwünschte Wasseraufnahme verhindert, die eine drei mal höhere Dehnung verursachen würde. Da sich Nylon gut einfärben lässt, ist es zur Freude der Segler in allen erdenklichen Farben erhältlich.
Was ursprünglich als Synonym für Damenstrümpfe etabliert werden sollte, ist heute hervorragend für die Herstellung aller symmetrischen und asymmetrischen Spinnaker geeignet. Aufgrund seiner Dehnfreudigkeit kommt es für Groß- und Vorsegel jedoch nicht in Frage.